Gabriel Kuhn

Vom Barangay zum Infoladen

Der philippinische Anarchismus ist gut verankert

30. Juni 2018

      Junger Punk-Rock und alte Nationalhelden

      Viele Projekte und nicht so viele Frauen

Die anarchistische Bewegung in den Philippinen ist eine der aktivsten des Globalen Südens. Libertäre Einflüsse haben dort eine lange Tradition. Nationalhelden wie Lapu-Lapu und Rizal gelten als anarchistisch geprägt, die Szene ist vielfältig. Im Vordergrund steht dabei die Praxis.


Zu meiner ersten Begegnung mit einem Anarchisten aus den Philippinen kam es im Jahr 2006 in einem Infoladen in Tokio. Jong Pairez war Absolvent einer philippinischen Kunsthochschule mit großem Interesse am Philosophen Gilles Deleuze. Für seinen Lebensunterhalt räumte er Regale in einem Supermarkt ein: Arbeitsmigration in Asien.

Wenige Wochen später kam ich am Flughafen Manilas an. Freunde von Jong holten mich ab und stellten ihre Projekte vor. Diese entsprachen einer weltweit erstaunlich einheitlichen anarchistischen Subkultur: Infoläden wurden aufgebaut, Blogs eingerichtet, Publikationen geplant und Konferenzen organisiert. Dazu gab es Food-Not-Bombs-Gruppen, die Essen verteilten, und eine rege Anarcho-Punk-Szene. Letztere betrieb gerade eine Anti-Repressionskampagne, die auch internationale Aufmerksamkeit erregte: Bei den „Sagada 9“ handelte es sich um junge Punks, die nach einem Festival im Hochland Luzons als Verdächtige eines Guerillaangriffs festgenommen, gefoltert und angeklagt wurden. Es dauerte ein Jahr, bis sie wieder auf freien Fuß kamen.

Bekannte, die 2011 in die Philippinen reisten, initiierten für Cris, den Betreiber des Infoladens Etniko Bandido in Manila, eine Vortragsreise in Deutschland. Sie wurde unterstützt von der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU) und anarchistischen Gruppen. Rückblickend fasst Cris seine Eindrücke so zusammen: „Die Privilegiertheit Europas lässt sich an den Themen ablesen, die in der radikalen Linken diskutiert werden: Zu Antifaschismus und Critical Whiteness gesellen sich intellektuelle Ausführungen zu Arbeitsverhältnissen oder Geschlechtsidentität. Armut und Hunger sowie der Kampf um grundlegende Bürgerrechte haben keine besondere Relevanz. Die Leute haben viel Zeit, sich theoretischen Auseinandersetzungen zu widmen. Für uns steht die Praxis im Vordergrund. Wir müssen uns immer die Frage stellen, welche Konsequenzen unsere Aktivitäten haben.“

Junger Punk-Rock und alte Nationalhelden

International bekannt wurden anarchistische Einflüsse auf das politische Denken in den Philippinen – vor allem im Kontext der Unabhängigkeitsbewegung – durch Benedict Andersons Buch »Under Three Flags: Anarchism and the Anti-Colonial Imagination«. Anderson konzentriert sich dabei auf die Rolle historischer Freiheitskämpfer wie José Rizal und Isabelo de los Reyes. Für die gegenwärtige anarchistische Bewegung in den Philippinen sind freilich andere Themen bedeutender: neben Punk-Rock die „Bewegung der Bewegungen“ der 2000er Jahre und die Abgrenzung zu den marxistischen Gruppierungen, die die Linke in den Philippinen lange Jahre prägten, allen voran die Kommunistische Partei und ihr militärischer Arm, die Neue Volksarmee. Von großer Bedeutung sind auch die philippinische Diaspora, das hohe Bildungsniveau und die Verwendung von Englisch als Lingua franca. Dabei gibt es starke internationale Einflüsse, vor allem aus den USA.

Auseinandersetzungen mit anarchistischen Institutionen des Globalen Nordens scheuen die philippinischen GenossInnen jedoch nicht. Als das Institute for Anarchist Studies (IAS) im Jahr 2007 dem Journalisten Noel Barcelona ein Stipendium verlieh, um über den Anarchismus in den Philippinen zu schreiben, protestierten sie. Barcelona sei ein autoritärer Linker. Das IAS war peinlich berührt.

Bas Umali ist gewissermaßen das theoretische Sprachrohr der philippinischen AnarchistInnen. Sein 2007 erschienener Text „Archipelagic Confederation: Advancing Genuine Citizens’ Politics through Free Assemblies and Independent Structures“ ruft zur Aushöhlung des philippinischen Nationalstaates auf. Dieser soll durch eine Konföderation autonomer Gemeinden ersetzt werden. Der Text wurde von Robert Graham in den dritten Band seiner umfangreichen Anthologie „Anarchism: A Documentary History of Libertarian Ideas“ aufgenommen.

Umali bezieht sich sehr positiv auf die barangay, die traditionellen Dorfgemeinschaften der Inseln, die heute die Philippinen bilden. Er beschreibt diese als unabhängig, demokratisch und naturverbunden. Dies erinnert stark an die Romantisierung vorindustrieller Gesellschaften, wie sie im sogenannten Anarcho-Primitivismus der 1990er Jahre populär wurde. Es passt also ins Bild, dass es in jüngeren Jahren eine Zusammenarbeit zwischen philippinischen AnarchistInnen und der Deep Green Resistance gab: einem umstrittenen Netzwerk radikaler Öko-AktivistInnen rund um „Endgame“-Autor Derrick Jensen. Umali stören Vorwürfe der Romantisierung nicht: „Indigene Gesellschaften sind nicht perfekt, aber weit weniger zerstörerisch als Staaten, Konzerne und Kirchen, die Macht zentralisieren und für Kriege, Ausbeutung, Umweltzerstörung, Hunger und Armut verantwortlich sind. Indigene Gesellschaften sind höher entwickelt als moderne, weil sie nachhaltiger sind.“ So ist der philippinische Nationalheld Lapu-Lapu, der Anfang des 16. Jahrhunderts den ersten dokumentierten Aufstand gegen die spanischen Kolonialherren anführte, auch bei AnarchistInnen äußerst beliebt.

Manila ist das Zentrum der anarchistischen Bewegung in den Philippinen, diese ist aber keineswegs auf die Hauptstadt beschränkt. Anarchistische Kollektive gibt es auch in Davao, Cebu, Lucena und anderen Städten. Im Rahmen des Local Autonomous Network (LAN) stehen sie in regem Austausch miteinander. Eines der bemerkenswertesten Projekte der letzten Jahre ist die Mobile Anarchist School: ein Fahrradanhänger voller Bildungsmaterialien, mit dem AnarchistInnen durch Armenviertel ziehen. Dort installieren sie auch Solaranlagen. Die Verbindung sozialer und ökologischer Themen sind AnarchistInnen in den Philippinen sehr wichtig. Sie engagieren sich in Kampagnen wie 350.org, die sich gegen die Anwendung fossiler Brennstoffe richtet und alternative Energiequellen fördert.

Nachdem die beiden Taifune Yolanda 2013 und Vinta 2017 schwere Schäden verursacht hatten, organisierten AnarchistInnen von LAN Kinderbetreuung sowie die Lieferung von Nahrungsmitteln und Medikamenten in die betroffenen Gebiete. Eine Tätigkeit, die an eines der einflussreichsten anarchistischen Projekte der letzten 20 Jahre erinnert: Nach den vom Hurrikan Katrina 2005 ausgelösten Überschwemmungen war das basisdemokratisch organisierte Common Ground Relief viele Monate lang das wichtigste Solidaritätsprojekt in New Orleans.

Viele Projekte und nicht so viele Frauen

Zur gegenwärtigen Lage der anarchistischen Bewegung in den Philippinen sagt Infoladenbetreiber Cris: „Wir sind wenige und unser Einfluss ist beschränkt. Aber es gibt immer mehr Menschen, die nicht nur mit den Herrschenden unzufrieden sind, sondern auch den Glauben an die ‚progressive‘ Opposition verloren haben. Die Menschen sind desillusioniert und auf der Suche nach unabhängigen politischen Kräften. Das macht auch unsere Arbeit für sie interessant.“

Ein Artikel auf CNN Philippines vom September 2017 bestätigt dies. Unter dem Titel „The Anarchists Making a Difference in Philippine Society“ werden fünf Anarchisten, darunter Bas Umali, porträtiert. Dies durchaus wohlwollend. Die Autorin des Artikels, Portia Ladrido, gelangt zu dem Schluss: „Die Anarchisten mögen unterschiedliche Ideologien vertreten, aber sie teilen einige grundlegende Prinzipien: die Fähigkeit der Menschen, sich selbst zu organisieren; die Verantwortung des Individuums, zum kollektiven Wohlergehen beizutragen; die Bereitschaft, all jenen Hilfe und Solidarität zukommen zu lassen, die sie nötig haben.“

Dass der Artikel nur Männer porträtiert, ist kein Zufall. Wie in vielen anderen Ländern ist das anarchistische Milieu in den Philippinen stark männlich geprägt. Dies wird auch intern problematisiert. 2016 gab Etniko Bandido sein erstes Buch heraus, der Titel: „Anarcha-Feminists in the Philippines“. Das Buch zeichnet die Geschichte des Feminismus in den Philippinen nach und stellt „die gegenwärtige anarchafeministische Bewegung“ vor.

Die anarchistische Bewegung in den Philippinen ist heute eine der aktivsten in den Ländern des Globalen Südens. Sie entspricht – in Form wie Inhalt – in vielerlei Hinsicht anderen anarchistischen Bewegungen, auch des Globalen Nordens. Gleichzeitig gibt es lokale Charakteristika und Auslegungen. Damit spiegelt die Bewegung auch die Verfasstheit (sub)kultureller Räume in der globalisierten Welt wider. Die anarchistische Bewegung der Philippinen wird dabei nicht nur von anderen beeinflusst, sie beeinflusst auch andere. Ihre Bedeutung reicht weit über die Grenzen des Landes hinaus.


Der Artikel ist zuerst in der Juli/August 2018 Ausgabe der iz3w erschienen.